Werke
Zwischen Schädeldecken und Herzklopfen
Jonas, Medizinstudent im ersten Semester in Berlin, fühlt sich zwischen Anatomiesaal und Bibliothek oft wie ein Fremder im eigenen Leben. Während seine Kommilitonen scheinbar mühelos den Takt der Großstadt aufnehmen, hadert er mit eigenen Erwartungen, Zweifeln - und einem Herzklopfen, das nicht nur von Prüfungsstress kommt.
Als Emil in sein Leben tritt, verändert sich alles. Was als Freundschaft beginnt, wächst zu einer stillen Nähe, die Jonas herausfordert, sich selbst neu zu begegnen. Zwischen Vorlesungen, Nachtgesprächen und Spaziergängen entlang der Spree entdeckt er, was es heißt, wirklich zu fühlen - und zu sich zu stehen.
Einfühlsam, ehrlich und voller leiser Intensität erzählt Till Falkenstein die Geschichte zweier junger Männer auf der Suche nach Zugehörigkeit, Mut und der Liebe, die manchmal dort wartet, wo man sie am wenigsten vermutet.
Teil 1: Ankunft
Als der Zug aus Frankfurt am Main in den Berliner Hauptbahnhof einfuhr, klirrten die Fensterscheiben unter dem gewölbten Dach wie eine Erinnerung, die sich nicht abschütteln ließ. Jonas drückte die Stirn gegen das kalte Glas. Draußen strömten Menschen über den Bahnsteig: mit Rollkoffern, Einkaufstüten, Kopfhörern und Telefonen. Eine Frau mit Hund, ein Mann mit Geige. Berlin roch nach Beton, Kaffee und Versprechen, die niemand aussprach.
Er war zwanzig. Gerade Abitur in der Tasche. Frisch eingeschrieben an der Charité. Medizinstudium, erster Versuch, großer Plan. Und trotzdem fühlte er sich nicht wie jemand, der etwas beginnt – sondern wie jemand, der alles zurückgelassen hatte.
Der Rucksack drückte schwer. Ein Anatomiebuch, ein zerknickter Fahrplan, ein kleines Skelett aus Pappe, das ihm seine Mutter mit einem schiefen Lächeln in die Hand gedrückt hatte. »Damit du weißt, worauf du dich einlässt.« Er hatte nicht gefragt, ob sie damit das Studium meinte oder das Leben.
Seine Mutter hatte ihn zum Bahnhof gebracht, einen Kaffeebecher in der Hand, die andere in seiner. Keine große Abschiedsszene. Kein Drama. Nur das leise Einverständnis zweier Menschen, dass etwas endete, und dass sie versuchten, es nicht laut zu machen. Sein Vater war nicht gekommen. »Zu viel Arbeit«, hatte er gesagt. Jonas hatte nur genickt. Inzwischen war ihm das Schweigen zwischen ihnen vertrauter als jedes Gespräch.
Die WG in Moabit war eine Notlösung gewesen: Altbau, vierter Stock, kein Aufzug. Der Schlüssel steckte in einem Umschlag unter der Fußmatte, ein Zettel lag darin.
»Hey, das Zimmer ist fast leer. Die anderen kommen, wie gesagt, erst am Sonntag zurück. Viel Glück. Lea«
Das Zimmer war klein. Eine Matratze. Ein wackeliger Tisch. Ein Fenster zum Innenhof, der mehr Klang als Licht sammelte. Jonas stellte seinen Rucksack in die Ecke. Es roch nach Holz, abgestandenem Tee und etwas, das man nicht greifen konnte. Vielleicht Einsamkeit. Vielleicht die Hoffnung der Vormieterin, die hier ebenfalls neu begonnen hatte. Vielleicht beides.
Er war angekommen und hatte keine Ahnung, wo genau. Er stand auf und zog die Vorhänge zu, obwohl es draußen noch hell war. Die Geräusche des Innenhofs waren gedämpft, als hätte jemand Watte zwischen die Wände gestopft. Kindergeschrei, leises Klappern von Geschirr, ein Radio, das von irgendwo italienische Oper spielte.
Er ließ sich nach hinten auf die Matratze fallen. Die Decke war weiß, mit kleinen Rissen in der Farbe. Er stellte sich vor, dass jeder dieser Risse eine Geschichte war. Jemand hatte hier vor ihm gelegen, vielleicht mit einem Herz voller Hoffnung oder voller Angst oder beidem.
Er schlief ein, ohne es zu merken, und wachte Stunden später auf, als sein Handy vibrierte. Eine Nachricht von seiner Mutter: »Gut angekommen? Schreib kurz und iss was Warmes.«
Er antwortete: »Alles gut. Ja, mach ich versprochen.«
Jetzt war es spät. Er ging in die Küche, fand ein halbleeres Glas Honig im Schrank und einen Tee, der nach Minze roch, aber alt war. Er kochte Wasser, lehnte sich ans Fensterbrett und schaute in die Dunkelheit. In zwei Zimmern brannte Licht. In einem davon las jemand. In dem anderen lag jemand auf dem Sofa, der Fernseher flackerte in blassem Licht.
Er dachte an die erste Anatomievorlesung am Montag, an die Einschreibung – und daran, was er längst wusste: dass alles neu war, dass er niemanden kannte. Dass er allein war. Und dass das vielleicht gar nicht schlecht war.
Die ersten Tage waren chaotisch. Stundenpläne, Matrikelnummer, Orientierungstouren, Namen, die sich nicht festsetzen wollten. Die Charité war überwältigend, modern, weit, unpersönlich. Die Gänge klangen hohl, als spräche man in ihnen nur aus zweiter Hand. Im ersten Anatomieblock wurden Namen abgehakt wie Posten auf einer Einkaufsliste. Ein Professor mit Hornbrille sagte trocken: »Sie werden mit Toten lernen, um Leben zu retten. Gewöhnen Sie sich daran.«
Jonas nickte, aber seine Hände waren feucht.
In einer Einführungsveranstaltung setzte sich jemand neben ihn. Kurze blonde Haare, frisch vom Friseur, gepflegt und gestylt. Ein verwaschenes T-Shirt, ein verschmitztes Lächeln. Die Art Mensch, die Räume betrat, ohne sich zu erklären – und trotzdem nicht störte.
»Hi. Ich bin Emil. Wie heißt du? Weißt du, ob’s hier WLAN gibt? Oder leben wir jetzt modern entschleunigt? Wir sollen uns ja aufs Studieren konzentrieren.«
Jonas musste lachen. Es war das erste Mal, dass er lachte, seit er angekommen war. Nicht, weil die letzte Frage besonders witzig war, sondern weil er mit Leichtigkeit kam. Ohne Erwartungen.
»Ich bin Jonas«, sagte er.
»Cool. Also, Jonas … ich tippe auf ein Passwort mit mindestens zwei Sonderzeichen, der Anzahl der Knochen in unseren Körpern und des Gründungsjahr der Charité.«
Jonas grinste. »Dann hast du ja Glück. Ich hab ein Skelett im Rucksack.«
»Wirklich? Zeig her.«
»Aus Pappe. Geschenk von meiner Mutter.«
»Makaber.«
»Oder fürsorglich. Sie meinte, ein angehender Doc sollte den Knochenaufbau von Anfang an draufhaben.«
Emil grinste.
Emil nannte ihn von da an »Doc«, lud ihn ein zur ersten Lerngruppe ›also eigentlich Kaffeegruppe mit gelegentlichen Skriptmomenten‹ und ließ nicht locker, bis Jonas zusagte. Sie verstanden sich. Beim Kaffee in der Mensa sprachen sie über alles, was nicht in den Vorlesungen vorkam. Emil mochte alten Hip-Hop und hatte eine Schwäche für Lakritztee. Er hatte zwei ältere Schwestern, war in Erfurt aufgewachsen und hatte eine Vorliebe für T-Shirts mit schlechten Wortwitzen. Jonas mochte Stille, las Romane, die niemand kannte, und war überrascht, wie leicht es für ihn war, neben Emil zu sprechen ›oder zu schweigen‹.
Sie saßen manchmal stundenlang in der Bibliothek, ohne sich anzuschauen, aber immer in direkter Reichweite. Emil tippte laut, Jonas markierte still. Wenn ihre Hände sich zufällig berührten, sagte keiner etwas. Aber keiner zog sie schreckhaft zurück.
Am Ende der Woche saß Jonas in seinem Zimmer am Fenster, die Beine angezogen, das Papp-Skelett auf dem Tisch.
In seinem Notizbuch schrieb er:
»Ich weiß nicht, ob es das Studium ist oder ich selbst. Aber irgendetwas fühlt sich neu an. Als hätte ich mich gerade erst kennengelernt.«
Er dachte an Emil. An das Lachen. An die Art, wie er seine Fragen stellte, ohne Antworten zu erwarten. Und an das Gefühl, dass Nähe vielleicht nicht immer laut beginnt – sondern leise. Mit einer Stimme, die WLAN-Passwörter erfragt. Er erinnerte sich an den Moment, als Emil ihn zum ersten Mal berührte ›unabsichtlich vielleicht‹ , die Fingerspitzen an seinem Handgelenk, als sie beide dasselbe Lehrbuch gleichzeitig greifen wollten. Ein Hauch von Wärme, ein Stromstoß durch den Magen, den Jonas nicht kannte. Oder nicht benennen wollte. Es war nicht der Moment, der zählte sondern, dass Jonas sich dabei nicht erschrak.
Er ließ seine Gedanken schweifen. Was, wenn da etwas war? Was, wenn er schon lange gespürt hatte, dass er anders fühlte – aber keinen Namen dafür gefunden hatte? Kein Wort, das nicht fremd klang. Kein Satz, den er sich selbst sagen konnte, ohne zu stutzen.
Vielleicht war Berlin dafür da. Nicht, um neu zu werden. Sondern um ehrlich zu werden.
Teil 2: Begegnung
Die Abende in Berlin wurden kühler, der Himmel über Moabit färbte sich früher dunkel. Jonas gewöhnte sich an den Rhythmus der Stadt – an das Gedränge in der Ringbahn, das Quietschen der U-Bahnkurven, das nächtliche Flackern der Ampeln. An den Geruch von nassem Asphalt und Imbissfett. Und an Emil.
Oder besser gesagt: an Emils ständige Präsenz in seinem Leben.
Was mit Lerngruppen und Karteikarten begonnen hatte, wurde zu etwas anderem. Sie trafen sich beinahe täglich. Morgens in der Bibliothek, nachmittags für einen Kaffee, abends zum gemeinsamen Kochen – wobei Emil selten kochte und meist nur auf Jonas' Arbeitsplatte saß und irgendetwas Monotones erzählte, bis der Timer piepte.
Manchmal waren sie bei Jonas in der WG. Dann saß Emil auf dem Bett, warf Gummibärchen an die Decke und sprach von seinen Schwestern, seinen Schulfreunden, seinen Plänen, die sich nie festlegen ließen.
»Was willst du mal machen?«, hatte Jonas einmal gefragt.
»Leben«, hatte Emil gesagt. »Aber nicht zu viel planen dabei.«
An einem Dienstagabend, kurz vor zehn, hatte Jonas schließlich gefragt: »Hast du eigentlich eine Freundin?« Er hatte es beiläufig gesagt. So beiläufig, wie man das eben sagen kann, wenn es alles andere als beiläufig gemeint ist. Er hatte versucht, sich dabei nicht zu verhaspeln, den Blick nicht zu lange auf Emil zu richten.
Emil war gerade dabei gewesen, sich eine bestimmte Gummibärchenfarbe aus der Tüte zu fischen ›die roten‹, biss sie mit spitzen Zähnen durch und sagte: »Nö. Ich bin … keine Ahnung. Grad ganz gern allein.«
Das brachte Jonas nicht wirklich weiter. Aber er konnte auch nicht weiter nachhaken, ohne zu viel zu verraten. Also nickte er, versuchte zu lächeln, vergrub sich in ein Lehrbuch, dessen Inhalt er kaum noch verstand.
Doch die Antwort ließ ihn nicht los. Nicht das »Nö«, nicht das »gerne allein«. Er hatte etwas erwartet, ohne zu wissen, was genau. Vielleicht ein Hauch von Unsicherheit in Emils Stimme. Ein Lächeln, das mehr verriet. Vielleicht einfach nur einen Nebensatz, der ein Fenster öffnete.
Doch stattdessen kam Stille. Und mit ihr: Unsicherheit.
In jener Nacht saß Jonas lange wach. Draußen fiel leiser Regen. Das Licht der Straßenlaterne brach sich in Tropfen, die am Fenster herabrutschten. Die Stadt schlief, doch in seinem Kopf war es laut. Er scrollte durch die Fotos auf seinem Handy. Emil auf dem Fahrrad. Emil mit einem Kaffee. Emil, wie er eine Grimasse zieht in der Bibliothek, während er ein Modellherz in der Hand hält. Emil, wie er lacht, halb aus dem Bild, als hätte jemand im falschen Moment auf den Auslöser gedrückt – und damit genau den richtigen getroffen.
Ein warmes Ziehen breitete sich in seiner Brust aus. Kein Schmerz. Kein Frieden. Etwas dazwischen. Er öffnete den Laptop. Tappte mechanisch in die Tastatur. »Wie weiß ich, ob ich schwul bin?« Die Ergebnisse waren enttäuschend. Selbsttests mit zehn Fragen, Erfahrungsberichte von Menschen, die er nicht kannte, banale Tipps aus bunten Online-Magazinen. Und doch klickte er weiter, las, ließ sich treiben.
Er las Geschichten von jungen Männern, die sich erst mit zwanzig, fünfundzwanzig, dreißig verstanden hatten. Geschichten von Zweifeln, von Angst, von Befreiung. Und mit jeder Seite wurde ihm klarer: Es ging nicht um Begriffe. Nicht um Schubladen. Es ging um ein Gefühl. Um das, was er spürte, wenn Emil lachte. Wenn Emil ihn berührte. Wenn er neben ihm saß und die Welt für einen Moment still war.
Am Samstagmorgen kam eine Nachricht von Emil.
»Spontan Lust auf Natur? Teufelsberg im Grunewald? Bäume gucken und durchpusten lassen?« Jonas antwortete sofort. Fünf Minuten später stand er auf, duschte, zog sich an, als hätte das Treffen eine Bedeutung, die über einen Ausflug hinausging. Sie trafen sich an der S-Bahn-Station. Emil trug einen verwaschenen Hoodie und eine bunte Wollmütze, die ihm nicht stand, die er aber mit Stolz trug.
»Du siehst aus wie ein Hippie«, sagte Jonas grinsend.
»Danke. Ich versuche, unattraktiv zu wirken. Klappt's?«
»Nicht wirklich.«
Sie fuhren bis Bahnhof Nikolassee, stiegen aus und liefen Richtung Grunewald. Es war feucht, der Boden rutschig, Blätter klebten an den Schuhen. Emil führte den Weg. Jonas folgte. Die Stadt wurde leiser. Die Stimmen der anderen Fahrgäste waren längst verschwunden.
»Ich war mal zelten. «, sagte Emil, als sie den Wald betraten. »Mit nem Kumpel damals. Wir waren sechzehn oder so, dachten, wir sind wahnsinnig unabhängig. Haben Chips und Bier geschmuggelt und versucht, ein Lagerfeuer mit nassem Holz zu machen.«
»Klingt nach einem intellektuell wertvollen Ausflug.«
Emil lachte leise. Dann wurde sein Blick versonnen.
»Ich hab ihn da fast geküsst«, sagte er.
Jonas blieb kurz stehen. »Fast?«
»Ja. Ich war … unsicher. Und ich glaube, er auch. Aber ich hab's nicht gemacht. Und dann war's vorbei. Hab's nie nochmal versucht. War einfacher, nicht drüber zu reden.«
Sie gingen weiter. Eine Weile sagte keiner etwas. Das Laub raschelte unter ihren Schuhen. Vögel zwitscherten in der Ferne. Jonas' Herz pochte schneller. Die Worte hallten in ihm nach. Emil. Fast ein Kuss. Die Unsicherheit brach in ihm aus.
»Ich glaube«, sagte Jonas schließlich leise, »Ich hab mich nie wirklich getraut, mich selbst zu fragen wer ist bin.«
Emil blieb stehen. Wandte sich ihm zu. Zwischen ihnen war nur noch Luft und Wald.
»Dann frag dich jetzt«, sagte er ruhig.
Jonas hob den Blick. Ihre Augen trafen sich. Und dann tat er es einfach. Er trat näher. Ganz vorsichtig. Seine Hand suchte Emils. Fand sie. Und hielt sie. Zögerlich. Ungeschickt. Aber ehrlich. Emil zog sie nicht weg. Sie standen da. Zwei Körper im Wald. Eine Berührung, die alles veränderte und doch kaum sichtbar war. Kein Kuss. Kein Drama. Nur Wärme. Ein Anfang.
Auf dem Rückweg saßen sie nebeneinander im Zug. Jonas sah aus dem Fenster. Sah das Spiegelbild von Emil und sich in der Scheibe. Zwei Silhouetten. Zwei Ungewissheiten.
Sie redeten nicht viel. Es war keine Stille, die drückte – eher eine, die Raum ließ. Als sie in Moabit ankamen, liefen sie nebeneinander zur WG. Vor der Haustür blieb Emil stehen.
»War schön heute«, sagte er.
»Ja.«
Emil zögerte kurz. »Willst du noch was machen? Film oder so?«
Jonas nickte. »Klar.«
Drinnen machte Emil Tee. Jonas suchte einen Film aus, legte sich auf die Matratze. Emil setzte sich dazu. Zwischen ihnen ein Kissen. Und trotzdem war da diese Nähe. Der Film lief. Jonas vergaß die Handlung nach zehn Minuten. Spürte nur den Körper neben sich, das leise Atmen, das gelegentliche Lächeln, wenn Emil flüsterte: »Der Typ da stirbt gleich. Wette ich.« Irgendwann legte Emil seinen Kopf an Jonas' Schulter. Nicht gefragt. Nicht erklärt. Einfach getan. Und Jonas lehnte sich nicht weg.
In seinem Notizbuch schrieb Jonas später in der Nacht, als er wieder alleine war:
»Ich habe seine Hand gehalten. Nur kurz. Aber lang genug, um zu wissen, dass ich lebe. Ich weiß nicht, was das war. Aber es war echt. Und der Moment gehört uns.«
Dann legte er den Stift beiseite, schob das Fenster auf und ließ die Berliner Nachtluft ins Zimmer. Draußen rauschte ein Auto vorbei. Irgendwo schlug eine Tür. Leben. Einfach da. Er dachte nicht mehr an Begriffe. Nicht mehr an Listen. Er dachte an Emil. An den Wald. An die Wärme in seiner Hand. Und daran, dass etwas begonnen hatte. Vielleicht vorsichtig. Vielleicht ungeplant. Aber doch: begonnen.
Teil 3: Entscheidung
Die Tage nach dem Ausflug in den Grunewald waren merkwürdig still.
Jonas hatte gehofft, dass irgendetwas anders sein würde. Dass Emil schreiben würde. Irgendein kurzes Lebenszeichen. Ein »Danke für den schönen Tag«, ein beiläufiges Emoji, vielleicht ein dummer TikTok-Link, wie sonst auch. Doch nichts kam. Kein Ping, keine Nachricht, kein Signal.
Stattdessen: Leere.
Er versuchte, sich auf das Studium zu konzentrieren. Histologie, Muskelgewebe, Schnitte und Färbungen. Die Vorlesungen wurden technischer, das Tempo schneller. Beim Präparieren der Leiche im Anatomiekurs zitterten seine Hände kaum merklich, als er das Gewebe am Oberschenkel freilegte. Doch seine Gedanken waren nicht beim Musculus obturator internus, sondern bei Emils Blick im Wald. Bei seiner Hand. Bei der Stille danach.
War es zu viel gewesen? Hatte er eine Grenze überschritten? Oder hatte er sich alles nur eingebildet?
Am Donnerstag trafen sie sich wieder, zum ersten Mal seit jenem Samstag. In der Bibliothek. Emil saß bereits am Tisch, vertieft in ein Anatomiebuch. Er kaute gedankenverloren auf dem Schaft seines Stiftes herum.
Jonas blieb kurz stehen. Sein Herz pochte zu schnell. Dann setzte er sich neben ihn.
»Hey«, sagte er leise.
Emil hob den Kopf. »Hey, Doc.«
Das Lächeln war da. Doch es war vorsichtiger als sonst. Nicht gespielt, aber verhaltener. Wie ein Echo.
»Alles gut bei dir?«, fragte Jonas.
»Klar.« Emil nickte, schob das Buch zur Seite. »Und bei dir?«
Jonas zögerte. »Geht so.«
Emil musterte ihn. Dann sagte er, ohne aufzusehen: »Wegen Samstag?«
Jonas nickte. »Ich weiß nicht, was das war. Ich wollte dich nicht überrumpeln.«
Emil atmete hörbar aus. »Du hast mich nicht überrumpelt. Ich war nur … überrascht. Und vielleicht auch überfordert.«
Sie schwiegen. Um sie herum redeten Studierende, Seiten raschelten. Das Licht schien grell und hart auf dem Tisch, doch zwischen ihnen blieb alles weich und vage.
»Hast du auch darüber nachgedacht?«, fragte Jonas.
»Jeden Tag«, sagte Emil.
Er drehte seinen Stift zwischen den Fingern. Dann, leiser: »Ich weiß nicht, was das bedeutet, Jonas. Ich hatte noch nie was mit einem Mann. Ich dachte immer, ich wär einfach … offen. Und vielleicht war ich das auch. Aber ich musste es nie wissen.«
Jonas nickte langsam. »Ich weiß es auch erst seit ein paar Tagen. Vielleicht sogar noch nicht ganz. Aber ich weiß, dass ich dich mag. Und dass ich es ernst meine.«
Emil sah ihn an. Lange. »Lass uns irgendwohin gehen. Nicht hier.«
Sie fuhren mit der U-Bahn nach Friedrichshain. Stiegen an der Warschauer Straße aus. Berlin bei Nacht war wie ein anderer Planet: Lichter flackerten, Musik vibrierte aus geöffneten Fenstern, Menschen zogen in Grüppchen durch die Straßen. Der Asphalt glänzte noch vom Regen.
Sie gingen schweigend nebeneinander her, vorbei an Bars, Pizzerien und Graffitiwänden. Dann setzten sie sich auf eine Bank am Boxhagener Platz. Über ihnen rauschte der Wind in den Bäumen. Auf dem Boden lagen leere Pizzakartons und leere Bierflaschen.
»Weißt du«, sagte Emil, während er die Hände rieb, »ich hab nie darüber gesprochen. Nicht mit meinen Eltern. Nicht mit Freunden. Aber manchmal … hatte ich Gedanken. Momente. Und ich hab sie weggeschoben, weil’s einfacher war.«
Jonas schwieg. Hörte nur zu.
»Und dann kamst du«, sagte Emil. »Und plötzlich war alles … nicht mehr wegzuschieben.«
Jonas drehte sich zu ihm. »Du musst nichts tun, was du nicht willst.«
Emil sah ihn an. »Aber ich will.«
Dann, zögerlich, beugte er sich vor. Nicht ruckartig, nicht dramatisch – tastend. Suchend. Und schließlich berührten sich ihre Lippen.
Es war kein Filmkuss. Keine Musik. Kein dramatischer Schwenk. Es war nur ein Hauch. Eine Berührung, die mehr sagte als alles, was zuvor unausgesprochen geblieben war.
Zwei junge Männer auf einer Parkbank. Und zwischen ihnen: etwas Echtes.
Der Weg zur U-Bahn war leise. Aber diesmal war es eine andere Stille. Eine, die nichts mehr verdrängte. Beide lächelten und kicherten in sich hinein.
Emil nahm Jonas’ Hand. Offen. Ohne Zögern. Und Jonas spürte: Es war nicht nur ein Moment. Es war eine Entscheidung.
Als Jonas zuhause angekommen war setzte er sich an seinen Schreibtisch. Die Straßen draußen lagen still. Neben der Lampe lag ein offenes Anatomiebuch. Er klappte es zu.
Heute war kein Tag für das Herz als Muskel. Heute war es ein Symbol.
In sein Notizbuch schrieb er:
»Er hat mich geküsst!!! Nicht, weil ich ihn dazu gebracht habe. Sondern weil er es wollte. Ich habe seine Hand gehalten, und er meine. Ich weiß nicht, wohin das führt. Aber ich weiß, dass es wirklich passiert.«
Dann legte er den Stift beiseite, lehnte sich zurück und atmete tief ein. In ihm rauschte alles – aber es war kein Chaos. Es war Leben.
Am nächsten Morgen war die Welt dieselbe. Und doch seine ganz anders.
Emil wartete vor dem Hörsaal auf ihn. In der Hand einen Coffee-to-go, das Gesicht verschlafen, aber das Grinsen strahlender als sonst. In seinen Augen lag etwas Neues. Wärme. Vertrautheit.
Sie setzten sich nebeneinander, wie immer. Doch ihre Knie berührten sich, leicht, ganz bewusst. Nicht zufällig. Jonas musste lächeln, er konnte dieses Glücksgefühl nicht beherrschen.
Der Professor sprach über das vegetative Nervensystem. Über Reize. Hormone. Reflexbögen.
Jonas hörte kaum zu. Denn in seinem Kopf war nur ein einziger Gedanke:
»Ich bin nicht mehr allein.«
Teil 4: Zwischenraum
Berlin zeigte sich in jenen Tagen von seiner grauen Seite. Der Novemberregen lag wie ein feuchter Schleier über der Stadt, tropfte von den Dachrinnen, sammelte sich in glänzenden Pfützen auf den Gehwegen und ließ die Scheiben der Busse milchig beschlagen. Die Bäume in Moabit standen kahl da, wie Gerippe, die auf einen besseren Tag warteten. Und obwohl alles ein wenig trostlos wirkte, fühlte sich Jonas eigenartig ruhig. Vielleicht, weil er nun nicht mehr ganz allein war.
Emil war da.
Nicht ständig. Nicht in jeder Stunde. Aber doch verlässlich.
Er war kein Versprechen, das laut ausgesprochen worden war – aber auch keines, das total in der Luft hing und jederzeit verschwinden konnte. Er war einfach da. Im Alltag. Im Gedankenstrom.
Jonas hatte sich nie gefragt, wie Liebe beginnt. Ob sie schleichend kommt oder plötzlich. Mit einem Blick oder erst nach hundert kleinen Gesten. Aber mit Emil fühlte es sich an wie ein weiches Erwachen. Als hätte jemand das Fenster geöffnet und gesagt: »Schau, das bist du. Und das bist du mit jemandem.«
Sie redeten nicht viel darüber. Es gab keine langen Gespräche über Identitäten, keine Fragen wie: »Was sind wir eigentlich?« Alles zwischen ihnen war in Bewegung, aber nichts davon forderte sofortige Klarheit. Es reichte, dass Emil da war. In der Vorlesung, wenn er ihm einen Zettel zuschob mit einer schlechten Skizze des Dozenten. In der Cafeteria, wenn er demonstrativ das letzte Stück Kuchen teilte. Abends, wenn sie gemeinsam durch die Stadt liefen, ohne Ziel, aber mit einem leisen Gefühl, dass es irgendwo gut war, wo sie gerade standen.
Sie schrieben sich oft. Kleine Nachrichten, scheinbar beiläufig. Doch zwischen den Zeilen lag mehr.
»Hab heute aus Versehen deinen Lieblingskaffee gekauft. Schmeckt nicht so gut, wie wenn du ihn machst. Aber irgendwie war’s schön, dass er da war.«
»Trink genug. Und schlaf mal mehr als vier Stunden. Du klingst wie jemand, der innerlich schon seziert wurde.«
Solche Sätze. Solche Wörter.
Zärtlichkeiten, die sich nicht trauten, sich selbst so zu nennen.
Der Abend brachte Nieselregen. Die Stadt schien sich in Watte gehüllt zu haben, als wolle sie alles Draußen etwas fernhalten. Emil saß auf dem Bett, die Beine ausgestreckt, ein zerwühltes Kissen im Rücken, barfuß, mit zerzaustem Haar. Er trug einen alten Pulli mit ausgewaschenem Aufdruck und musterte die Bettdecke.
»Dein Bett steht falsch. Du kriegst morgens nie richtig Licht.«
»Ich mag kein Licht morgens. Ich will dann nicht existieren.«
»Na dann, willkommen im Leben eines Vampirs.«
Jonas lachte und setzte sich neben ihn. Das Lachen war eine Brücke. Zwischen Unsicherheiten. Zwischen Fragen, die keiner zu stellen wagte.
Die Playlist, die leise aus dem Lautsprecher kam, spielte Jazz. Alte, kratzige Aufnahmen, bei denen man das Gefühl hatte, jemand hätte sie im Hinterhof aufgenommen. Es passte.
»Und … wie geht's dir damit?«, fragte Jonas.
Emil schwieg einen Moment. Dann: »Ich denk zu viel. Aber wenn ich bei dir bin, denk ich weniger. Das ist irgendwie … neu. Und gut.«
Jonas nickte. Es war nicht der perfekte Moment. Aber es war ein echter.
Dann sagte er, leise: »Willst du bleiben heute Nacht?«
Emil sah ihn an. Und wieder war da diese kleine Pause. Kein großes Drama. Nur ein Nicken. Eine schlichte, aber bedeutungsvolle Zustimmung.
Die Nacht war nicht filmreif. Es gab keinen dramatischen Kuss im Regen, keine Musik, die ein Crescendo setzte. Es war vielmehr ein vorsichtiges Suchen. Eine Bewegung nach innen. Zwei Körper, die sich nebeneinander legten, sich nicht mehr fremd fühlten, aber auch noch nicht ganz vertraut waren.
Zuerst lagen sie nebeneinander, still. Ihre Schultern berührten sich. Die Decke war etwas zu kurz, und Jonas' Füße schauten unten hervor. Emil drehte sich irgendwann auf die Seite, sein Atem streifte Jonas' Nacken.
»Ist das okay so?«, flüsterte Emil.
»Ja«, sagte Jonas. »Ich war nur noch nie … so ruhig dabei.«
»Ich auch nicht.«
Später, als das Licht schon lange aus war, tasteten sich ihre Hände. Kein Ziel. Kein Plan. Nur Wärme. Emil zog Jonas ein wenig näher an sich. Nicht fest, aber entschieden. Jonas spürte seinen Herzschlag. Und seinen eigenen. Zwei Rhythmen, die versuchten, sich zu synchronisieren. Es war ein bisschen holprig, unbeholfen. Emil stieß sich den Ellbogen am neuen Bücherregal, Jonas fiel fast vom Bett, als er sich auf den Rücken drehte. Doch sie lachten. Leise, flüsternd, befreit. Und dieses Lachen war intimer als jeder zweiter Kuss.
Sie lagen da, unter der dünnen Decke, ihre Beine in einander verknotet. Beide wach. Beide still. Beide wachsend.
Jonas dachte:
Vielleicht ist das der Anfang von etwas, das keinen Namen braucht.
Am Morgen war Berlin wieder eine andere Stadt. Die Sonne warf ein helles Licht auf die Dächer, der Himmel war klar, und selbst die Straßenbahnen klangen freundlicher. Jonas stand am Fenster, in die Decke gehüllt, sie roch nach ihnen. Während Emil in der kleinen Küche Wasser kochte. Der Duft von Kaffee verbreitete sich langsam im Raum.
»Du schaust, als würdest du ein Gedicht schreiben«, sagte Emil grinsend, während er die Tasse reichte.
»Ich denke nach.«
»Über uns?«
»Über alles. Auch über uns.«
Emil stellte sich ihm gegenüber. Die Sonne traf ihn direkt ins Gesicht, ließ seine Augen fast golden wirken.
»Ich dachte, es wird komplizierter. Aber es ist leise mit dir«, sagte Emil nach einem Moment.
»Leise?«, fragte Jonas.
»Im guten Sinn. Nicht leer, sondern … klar. Als hätte jemand in mir aufgeräumt.«
Jonas lächelte. Das war vielleicht das Schönste, das je jemand über ihn gesagt hatte.
Sie standen noch lange so. Tranken langsam. Sprachen kaum. Und genau das war genug.
Doch das Leben machte keine Pause. Die Prüfungen rückten näher. Der Ton in den Vorlesungen wurde schärfer. Plötzlich war überall Druck. Man sprach von Klausurgruppen, Altfragen, Lernplänen. Die Nächte wurden kürzer, der Koffeinkonsum höher. Die Stimmung im Semester kippte.
Jonas und Emil versuchten, sich kleine Inseln zu bewahren. Ein Spaziergang am Abend, eine schnelle Nachricht mitten in der Vorlesung. Ein Griff nach der Hand unter dem Tisch.
Doch je näher die Prüfungen rückten, desto häufiger fiel etwas aus. Ein Treffen. Ein Gespräch. Ein Lächeln.
»Sorry, ich schaff's heut nicht, muss mir den Aufbau des aures nochmal ansehen.«
»Bin fix und fertig. Meld mich morgen, okay?«
Es war nicht böse gemeint. Nur ehrlich. Aber in Jonas wuchs ein Gefühl, das er nicht greifen konnte. Vielleicht war es Angst. Oder Unsicherheit. Oder nur die Ahnung davon, dass Nähe allein nicht alles war.
Teil 5: Verwundbar
Und dann kam der Moment, der veränderte.
Es war ein Montagmorgen, kurz nach der Mittagspause, als Jonas und Emil in der Mensa nebeneinander saßen. Beide hatten ihre Tabletts halb leer gegessen, Jonas stocherte noch lustlos im Salat. Emil zeigte ihm ein Meme auf dem Handy, etwas mit einem Medizinstudenten, der bei einem Test die Milz im Knie lokalisiert hatte. Jonas lachte. Kurz. Unbeschwert.
In diesem Moment kam Ben vorbei – einer ihrer Kommilitonen aus der Anatomiegruppe. Groß, selbstsicher, mit einem humorvollen Lachen, das oft eine Spur zu laut war.
»Na, ihr zwei?«, sagte Ben und hob bedeutungsvoll die Brauen. »Lernt ihr schon gemeinsam für’s Ehegelübde?«
Jonas lächelte gequält, murmelte ein »Haha, genau«. Emil sagte nichts. Gar nichts. Er schob den Teller weiter von sich, nahm einen Schluck aus seiner Wasserflasche und blickte aus dem Fenster.
Nach Bens Abgang herrschte für einen Moment Stille. Jonas wollte etwas sagen, doch er wusste nicht was.
»Alles gut?«, fragte er schließlich.
Emil nickte, zu schnell. »Schon okay. War ja nur ein dummer Spruch.«
Aber es war nicht nur das. Jonas sah es an seinen Schultern, an der Art, wie er die Stirn verzog. Etwas war getroffen worden. Vielleicht nicht direkt. Aber indirekt.
Später, draußen auf dem Hof, standen sie nebeneinander, lehnten an der Steinmauer, blickten schweigend auf das Laub.
»Ich bin nicht bereit, das so öffentlich zu machen«, sagte Emil plötzlich.
Jonas drehte sich leicht zu ihm. »Ich versteh das.«
Und er meinte es ehrlich. Er verstand es. Und doch tat es weh.
Nicht, weil er das Verstecken verurteilte. Sondern weil es sich plötzlich wieder wie Alleinsein anfühlte. Wie ein Rückzug in eine Richtung, in der er nicht folgen durfte.
In der Nacht lag Jonas wach. Wieder einmal. Die Decke war zu warm, der Raum zu still. Emil hatte sich nicht mehr gemeldet. Nicht unüblich. Aber diesmal fiel es ihm schmerzlich auf.
Er dachte an die Nacht, die sie geteilt hatten. An die Wärme, an die Hände, die zueinander gefunden hatten. An das Morgenlicht in Emils Haar.
Und dann dachte er an die Worte heute. An den Rückzug. An die Unsicherheit.
In seinem Notizbuch schrieb er:
»Ich will ihn nicht drängen. Aber ich merke, wie sehr ich mir wünsche, einfach Hand in Hand mit ihm durch den Campus zu gehen. Ohne Fragen. Ohne Blicke. Nur wir. Und manchmal frage ich mich, ob das je möglich sein wird.«
Die Tage danach waren diffus. Emil war zwar da – aber nur halb. Im Seminar war er konzentriert, in Gruppenarbeiten präzise, aber privat? Anders. Abgelenkt. Verschlossener. Nicht feindlich. Nur … vage.
Jonas ließ ihm Raum. Er sagte nichts, stellte keine Fragen. Aber in ihm gärte etwas. Die Sehnsucht wuchs. Und mit ihr die Angst, dass das, was begonnen hatte, vielleicht zu zart war für die Welt da draußen.
Am Sonntag schlug Emil vor, gemeinsam in die Bibliothek zu gehen. Ein kleiner Lichtblick. Jonas sagte sofort zu.
Sie saßen stundenlang nebeneinander, die Köpfe über Lehrbücher gebeugt, kritzelten mit Stiften in Skripte, tauschten hin und wieder ein Lächeln. Aber es fühlte sich an wie Arbeit. Wie Koexistenz. Nicht wie das, was sie geteilt hatten.
Als Emil kurz zur Toilette ging, starrte Jonas auf seinen leeren Kaffeebecher. Die Gedanken rasten.
War das hier schon der Anfang vom Ende?
Er erschrak über sich selbst. Weil er spürte, wie sehr er sich schon an Emil gewöhnt hatte. Wie sehr sein Alltag, sein Inneres, auf ihn ausgerichtet war. Und wie sehr ihn der Gedanke an ein „ohne ihn“ erschütterte.
Am Dienstagabend saßen sie wieder bei Jonas in der Küche. Es war spät geworden in der Bibliothek, sie hatten kaum gesprochen auf dem Heimweg, nur ein paar müde Sätze über die nächsten Prüfungen gewechselt. Emil hatte gefragt, ob er noch mit hochkommen könne. Seine Stimme war dabei so leise gewesen, dass Jonas fast geglaubt hätte, es nicht richtig verstanden zu haben.
Jetzt saßen sie sich gegenüber, jeder mit einem Tee in der Hand. Auf dem Tisch lag ein geöffnetes Buch über die Muskulatur des Oberschenkels, daneben ein zerknüllter Bonbonpapierfetzen.
Jonas betrachtete Emil. Die dunklen Schatten unter seinen Augen. Den angestrengten Blick. Die Art, wie er die Finger immer wieder über den Tassenrand kreisen ließ.
»Du wirkst müde«, sagte er.
Emil nickte. »Bin ich auch.«
Stille.
Dann: »Nicht nur vom Lernen.«
Jonas wagte kaum zu atmen.
»Ich weiß nicht, wie ich das alles einordnen soll«, fuhr Emil fort. »Das mit uns. Ich hab das nicht erwartet. Ich dachte immer, ich sei jemand, der sich nicht festlegt. Der alles ein bisschen offenhält. Aber dann kamst du, und … plötzlich war’s echt.«
Jonas’ Herz schlug schneller.
»Und jetzt?«, fragte er.
»Jetzt hab ich Angst, es zu verlieren. Und gleichzeitig Angst davor, dass ich nicht weiß, was ich dir geben kann.«
Jonas schwieg einen Moment. Dann legte er die Hand auf Emils. »Ich will keine Versprechungen. Ich will dich. So wie du bist. Und wenn du nicht weißt, wohin das führt, dann ist das okay. Aber ich will nicht tun, als wäre da nichts.«
Emil sah ihn an. Lange. Dann sagte er nur: »Ich auch nicht.«
Ein leises Einverständnis. Keine Lösung. Aber ein Entschluss.
Sie blieben in jener Nacht von Beginn an nicht nebeneinander liegen wie zuvor. Diesmal lagen sie voreinander. Das Licht war aus, aber der Raum war voller Sprache. Keine Worte, sondern Berührungen, die antworteten. Körper, die sich langsam, tastend, wieder annäherten.
Es war wie ein zweites erstes Mal. Sanfter. Ehrlicher. Ohne Scheu.
Als Emil Jonas küsste, war es dieses Mal anders. Kein Zögern. Keine Fragen. Nur ein Hineinfallen. Sie lachten. Wieder. Über das Chaos der Bettdecke. Über Jonas’ kalte Füße. Über Emils flüchtige Orientierungslosigkeit.
Und als sie nebeneinander lagen, die Gesichter dicht beieinander, sagte Emil leise: »Ich war noch nie jemandes Freund. Ich weiß nicht, wie das geht.«
»Ich auch nicht«, antwortete Jonas. »Dann lernen wir’s eben.«
Am nächsten Morgen stand Emil früher auf. Jonas lag noch im Bett, die Decke bis zur Nase, halb dösend, halb wach. Er hörte, wie in der Küche Wasser aufgesetzt wurde, wie der Löffel gegen eine Tasse stieß, wie Emil leise summte.
Als er zurück ins Zimmer kam, trug er zwei dampfende Becher.
Emil setzte sich zu ihm aufs Bett. Sie tranken schweigend. Dann legte Jonas den Kopf an Emils Schulter. Nur für einen Moment.
Es war kein Alltag geworden, noch nicht. Aber es fühlte sich zum ersten Mal danach an, dass es einer werden könnte.
Doch in Jonas’ Bauch blieb etwas Unausgesprochenes. Nicht Zweifel. Aber Vorsicht. Weil er spürte, dass Emil noch nicht angekommen war in dieser neuen Rolle. Und vielleicht auch noch nicht ganz bei sich selbst. Er zwang sich, Geduld zu haben. Aber Geduld war schwer, wenn das Herz längst vorgelaufen war.
In den Tagen danach veränderte sich etwas, kaum merklich, aber spürbar. Sie sahen sich noch immer, schrieben sich Nachrichten, lagen abends gemeinsam auf Jonas’ Bett, schauten Serien oder lasen in ihren Skripten. Aber dazwischen lag nun eine Erwartung. Kein Misstrauen, kein Zweifel – vielmehr ein zartes Fragen: Was ist das, was da zwischen uns wächst? Und wohin soll es führen?
Der Prüfungsdruck war inzwischen allgegenwärtig. Der Campus roch jetzt nach Nervosität, nach zu viel Energy Drink. Menschen rannten durch die Gänge, trugen Karteikästen wie Waffen, als könnten sie sich damit gegen das Versagen schützen.
Jonas spürte, wie die Erschöpfung in seinen Körper kroch. Und auch in seinen Geist. Er war nicht mehr so aufmerksam wie sonst. Seine Augen brannten beim Lesen, seine Hände zitterten leicht, wenn er lange schrieb.
Emil war ebenfalls angespannt. Er sprach weniger. Manchmal antwortete er auf Nachrichten erst Stunden später. Nicht aus Desinteresse, Jonas wusste das, sondern weil der Druck ihn in sich selbst zurückzog. Und doch begann es, an ihm zu nagen.
An einem Freitagabend lagen sie nebeneinander auf dem Bett. Jonas hatte versucht, sich durch die Vorlesungsaufzeichnung zu quälen, doch die Stimme des Professors war nur noch Rauschen.
»Ich kann nicht mehr«, sagte er plötzlich.
Emil hob den Kopf. »Was meinst du?«
»Alles. Lernen. Funktionieren. Warten. Und nicht wissen, wo ich bei dir bin.«
Stille.
Dann setzte sich Emil auf. »Du wartest?«
Jonas sah ihn an. »Ja. Seit Wochen. Ich warte, dass du sagst, dass du das willst. Richtig. Nicht nur, wenn wir allein sind. Nicht nur, wenn es einfach ist.«
Emil schwieg lange. Dann fuhr er sich durch die Haare. »Ich weiß nicht, wie ich das zeigen soll. Ich hab das nie gelernt. Es war immer einfacher, sich nicht zu binden. Alles vage zu halten. Offene Türen, weißt du?«
»Ich will keine offene Tür. Ich will wissen, ob du drin bleibst.«
Es war nicht wütend gesagt. Nur leise. Aber es traf.
Emil atmete tief durch. Dann sagte er: »Ich hab Angst. Nicht vor dir. Sondern davor, dass ich dir nicht reiche. Dass ich es kaputt mache, einfach, weil ich nicht weiß, wie man liebt.«
»Man lernt es nur, wenn man es tut.«
Wieder Stille.
Dann rutschte Emil näher. Legte die Stirn an Jonas Schulter. »Ich will es versuchen. Ich kann dir nicht versprechen, dass ich’s richtig mache. Aber ich will nicht, dass du wartest. Ich will, dass du weißt: Ich bin da. Ich bin vielleicht nicht gut im Zeigen. Aber ich fühle es. Für dich.«
Jonas schloss die Augen. Er spürte Emils Wärme. Seine Unsicherheit. Seine Nähe. Und in seinem Inneren etwas, das leise zu wachsen begann, Hoffnung.
In seinem Notizbuch stand an diesem Abend nur ein Satz:
»Vielleicht ist Liebe nichts, das man sofort versteht. Sondern etwas, das man mit jemandem zusammen lernen muss.«
Am nächsten Morgen schien die Sonne durch das Fenster. Berlin hatte diese seltenen, fast zärtlichen Herbsttag, an denen das Licht golden über die Dächer strich. Emil machte Kaffee. Jonas deckte den Tisch. Es war still und friedlich.
Und inmitten all der Prüfungen, all des Lärms da draußen, war da etwas Neues entstanden. Nicht Sicherheit. Aber ein Anfang, der sich nicht mehr verstecken wollte.
Diese Kurzgeschichte findet ihr auch auf Wattpad (https://www.wattpad.com) und Storyban (https://storyban.de). Lasst mir dort euer Feedback da – und folgt mir unbedingt, damit ihr keine meiner nächsten Geschichten verpasst!